4. Dezember
„Für ihn“ von Julia Engelmann
Es ist der erste Tag im Jahr,
der Morgen nach der Neujahrsnacht.
Sie ist Ende achtzig und wie immer
lange vor neun Uhr wach.
Sie isst ein Brot zum Frühstück,
guckt zum Küchenfenster raus
und sieht mit großem Schrecken
all den Müll vor ihrem Haus.
So geht sie noch mit Schlafrock
und allein mit ihrem Besen
hinunter auf die Straße,
um Raketen aufzufegen.
Und da kommt er ins Spiel:
seines Zeichens Anfang neunzig,
sieht sie mit dem Besen, wie sie
aufräumt, und er freut sich.
Ob die alten Leute
immer alles machen müssen?
– Och, sie mache das gerne.
Aber wer wolle das denn wissen?
Und was er hier so rumstrolche,
in dem Alter, kurz nach acht?
Er habe reimgefeiert
und deshalb den Bus verpasst.
Ob sie denn alleine sei?
– Ja, seit fünf Jahren Witwe.
Oh, das tät ihm leid,
denn er teile dieses Schicksal.
Da schweigen sie gemeinsam
zwischen Glasmüll und Raketen.
„Ist das etwa Zufall?“,
sieht man beide überlegen.
Er fragt nach ihrer Nummer,
aber sie lehnt dankend ab.
Egal in welchem Alter
da ist Vorsicht angebracht!
Würde sie denn morgen
dann mit ihm zu Mittag essen?
– Nein, aber am Sonntag,
zwölf Uhr Treffen an der Ecke.
Und am besagten Tag
ist er nervös und früh schon da.
Doch sie lässt ihn noch warten,
schließlich ist sie ja eine Dame.
Sie hakt sich bei ihm ein,
beide haben sich schick gemacht.
Sie trägt ein gelbes Kleid,
er hat Magnolien mitgebracht.
Um drei sind sie zurück
von Gesprächen und Gebäck.
Besonnen, voller Glück
bringt er sie noch ans Eck.
Das können sie nicht ahnen,
beide, hier vor ihrer Tür,
doch in den nächsten Jahren
ist er jeden Tag bei ihr.