25. Dezember (Erster Weihnachtstag)
Der Engel Heinrich (Dietrich Mendt)
Als ich dieses Jahr meine Pyramide und die Krippe und die zweiunddreißig Weihnachtsengel wieder einpackte, behielt ich den letzten in der Hand.„Du bleibst“, sagte ich. „Du kommst auf meinen Schreibtisch. Ich brauche ein bisschen Weihnachtsfreude für das ganze Jahr.“
„Da hast du aber ein Glück gehabt“, sagte er.
„Wieso?“, fragte ich ihn.
„Na, ich bin doch der einzige Engel, der reden kann.“
Stimmt! Jetzt erst fiel es mir auf. Ein Engel, der reden kann? Das gibt es ja gar nicht! In meiner ganzen Verwandtschaft und Bekanntschaft ist das noch nicht vorgekommen. Da hatte ich wirklich Glück gehabt.
„Wieso kannst du eigentlich reden? Das gibt es doch gar nicht. Du bist doch aus Holz!“
„Das ist so. Nur wenn jemand einmal nach Weihnachten einen Engel zurückbehält, nicht aus Versehen oder weil er sich nichts dabei gedacht hat, sondern wegen der Weihnachtsfreude, wie bei dir, dann können wir reden. Aber es kommt ziemlich selten vor. Übrigens heiße ich Heinrich.“
„Heinrich? Bist du denn ein Junge? Du hast doch ein Kleid an!“ – Heinrich trägt nämlich ein langes, rotes Gewand.
„Das ist eine reine Modefrage. Hast du schon einmal einen Engel in Hosen gesehen? Na also.“
Seitdem steht Heinrich auf meinem Schreibtisch. In seinen Händen trägt er einen goldenen Papierkorb, oder vielmehr: Einen Müllkorb. Ich dachte erst, er sei nur ein Kerzenhalter, aber da hatte ich mich geirrt, wie ihr gleich sehen werdet. Heinrich stand gewöhnlich still an seinem Platz, hinter der rechten hinteren Ecke meiner grünen Schreibunterlage (grün und rot passt so gut zusammen!) und direkt vor ein paar Büchern, zwei Bibeln, einem Gesangbuch und einem Bändchen mit Gebeten. Und wenn ich mich über irgendetwas ärgere, hält er mir seinen Müllkorb hin und sagt: „Wirf rein!“ Ich werfe meinen Ärger hinein – und weg ist er!
Manchmal ist es ein kleiner Ärger, zum Beispiel wenn ich wieder meinen Kugelschreiber verlegt habe oder eine fremde Katze in unserer Gartenlaube vier Junge geworfen hat. Es kann aber auch ein großer Ärger sein oder eine große Not oder ein großer Schmerz, mit dem ich nicht fertig werde, zum Beispiel, als kürzlich ein Vater und eine Mutter erfahren mussten, dass ihr fünfjähriges Mädchen an einer Krankheit leidet, die nicht mehr zu heilen ist. Wie soll man da helfen! Wie soll man da trösten! Ich wusste es nicht. „Wirf rein!“ sagte Heinrich, und ich warf meinen Kummer in seinen Müllkorb.
Eines Tages fiel mir auf, dass Heinrichs Müllkorb immer gleich wieder leer war.
„Wohin bringst du das alles?“
„In die Krippe“, sagte er.
„Ist denn so viel Platz in der kleinen Krippe?“
Heinrich lachte. „Pass auf! In der Krippe liegt ein Kind, das ist noch kleiner als die Krippe. Und sein Herz ist noch viel, viel kleiner.“
Er nahm seinen Kerzenhalter unter den linken Arm und zeigte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, wie klein.
„Denn deinen Kummer lege ich in Wahrheit gar nicht in die Krippe, sondern in das Herz dieses Kindes. Verstehst du das?“
Ich dachte lange nach. „Das ist schwer zu verstehen. Und trotzdem freue ich mich. Komisch, was?“
Heinrich runzelte die Stirn. „Das ist gar nicht komisch, sondern die Weihnachtsfreude, verstanden?“
Auf einmal wollte ich Heinrich noch vieles fragen, aber er legte den Finger auf den Mund.
„Psst!“ sagte er. „Nicht reden! Nur sich freuen!“