24. Dezember (Heilig Abend)
Von der Erfindung der Weihnachtsfreude (Dietrich Mendt)
Im Himmel war gerade eine Beratung, eine „Diskussion“ würden wir sagen, aber im Himmel gibt es keine Diskussionen wie auf der Erde, obwohl man dort sehr oft miteinander berät und einander viel Kritisches sagt – aber es wird nichts übelgenommen. Und wo gibt es auf der Erde schon eine Diskussion, in der nichts übelgenommen wird? Im Himmel wird immer die Wahrheit gesagt, das heißt, es wird weder etwas verschwiegen noch was erzählt, was nicht stimmt. Und sowie einer laut reden und schimpfen will, verwandelt sich jedes Wort schon im Munde in ein gesungenes Halleluja. So ist das im Himmel!
Das Thema der heutigen Beratung war die Ankunft des Messias auf der Erde. „Ich meine, es ist soweit.“, sagte Gott Vater. „Die Menschen haben lange genug ausgeharrt, und wir haben durch unsere Propheten die Sache schon mehrmals bekannt gegeben und versprochen, nun müssen wir endlich was tun! Über tausend Jahre warten die Menschen, das ist eine lange Zeit, wenigstens auf der Erde.“ Und dann überlegten Gott und die Engel, die mit ihm im Himmel wohnten, wie man das wohl machen könnte, den Messias schicken.
Einer schlug vor, man solle den jetzt regierenden König von Juda nehmen. „Du baust ihn um, Gott Vater, zu einem Heiligen, denn das ist er leider noch nicht. Aber du wirst sehen, wie gut er sich macht.“ Andere waren mehr für einen Propheten, einer nannte sogar Johannes, der später der Täufer hieß. Wieder andere waren für einen Fürsten aus einem der übrigen Stämme Israels. „Einer, mit dem sie nicht so rechnen, kann sich eher durchsetzen! Denn wenn er aus dem Hause Juda kommt, vergleichen sie ihn mit dem großen Konig David, und womöglich schneidet er dann schlechter ab, der Messias. Das schadet unserem Ruf im Himmel.“
Gottvater war mit keiner der vorgebrachten Ideen einverstanden. „Zu wenig Freude“, sagte er. „Zu wenig Freude! Wenn der Messias kommt, sollen sich die Leute freuen. Gleich wenn sie ihn zum ersten Mal sehen, sollen sie sich freuen. Lachen sollen sie! Und ich fürchte, sie fürchten sich, anstatt zu lachen, wenn einer mit dem Säbel kommt oder mit einer Krone und einem prächtigen Purpurmantel! Mit so einem redet man doch nicht; da geniert man sich, da hat man einfach Angst, auf der Erde.“ Der Herrgott schaute sich um: ‚Hier gibt’s ja – mir sei Dank – so etwas nicht mehr: Kronen, Säbel und Purpurmäntel müssen sie alle unten lassen. Oder wenn er kommt wie ein Prophet, mit einem Kamelhaarfell und wildem Bart, das macht doch keine Freude. Wie muss einer aussehen, damit man sich freut?“
Der Engel Gabriel kaute an seinen Fingernägeln. Das tat er immer, wenn er scharf nachdachte, obwohl sich das auch im Himmel nicht gehört. „Schmeckt’ s?“, fragte Gott Vater. „Nein“, sagte Gabriel und wurde rot dabei, „ich werd‘ lieber eine Schere nehmen.“ Alles lachte, aber Gabriel war noch nicht fertig. „Vielleicht wie ein Kind?“, sagte er. „Über ein Kind freut man sich immer!“ „Ein Kind!?“ Gottvater stemmte die Arme in die Seiten. „Ein Kind? Natürlich: Ein Kind! Habt ihr schon ein einziges Mal einen Menschen gesehen, der sich fürchtet, wenn er ein Kind sieht, einen Säugling? Ich nicht! Das gibt’s auf der ganzen Erde nicht und im Himmel erst recht nicht. Ein Kind macht immer Freude.“ Gott Vater legte die Stirn ein wenig in Falten. Dann fügte er hinzu: „Wenigstens, wenn es noch klein ist.“
Jetzt hatten sie’s: Ein Kind! Der Messias musste als Kind auf die Welt kommen. Und Gabriel sollte es den Menschen bekannt geben, weil es seine Idee gewesen war, das heißt, er sollte es dem (!) Menschen bekannt geben, den Gott als Mutter bestimmt hatte: Maria aus Nazareth. Aber Gabriel war nicht zufrieden. „Und wer spielt das Kind? Wen nehmen wir da? Das Kind von König Herodes? Das geht doch wohl nicht. Oder von einem Propheten oder von einem Rabbi in Jerusalem? Das Kind wird erwachsen, daran muss man denken. Und es soll doch ein tüchtiger Erwachsener werden. Wer weiß, was ihm noch alles bevor steht.“ Alle dachten wieder angestrengt nach: „Wer spielt das Kind? „Ich!“, sagte Gott Vater. Jetzt hätte es im Himmel beinahe eine richtige weltliche Diskussion gegeben. „Du? Das geht doch nicht“, sagte der eine. „Ein richtiger Mensch? Gott als Kind? Da lachen ja die Menschen.“ „Sie sollen doch lachen“, sagte Gott Vater. „Natürlich, lachen sollen sie. Aber sie sollen doch Gott nicht auslachen! Das ist doch was ganz anderes!“ Gott Vater lächelte: „Vielleicht nicht. Ist es nicht besser, alle lachen, wenn sie mich sehen, auch wenn ein paar darunter sind, die mich auslachen?“ „Und der Himmel? Der soll wohl leer stehen?“ „Ja“, sagte Gott Vater. „Und wenn etwas schief geht, unten auf der Erde?“ „Es geht schief“, sagte Gott Vater, „aber das versteht ihr jetzt noch nicht.“
Im Himmel war es ganz still geworden. Gabriel kaute wieder an seinen Fingernägeln, aber diesmal bemerkte es keiner, außer vielleicht Gott, aber er tat so, als merke er nichts. „Es geht schief. Das sagst du so. Und wir? Denkst du gar nicht an uns?“ Gabriel war nahe am Weinen. Gut, dass die Engel Männer sind und sich deshalb ein bisschen zusammennehmen müssen. „Natürlich denke ich an euch. Aber ich denke auch an die Menschen. Schließlich kann mit euch Engeln nicht mehr viel passieren. Aber mit den Menschen, mit denen kann sehr, sehr viel passieren. Und deshalb geht es schief mit mir!“ „Warum? Warum nur?“ Das fragten mindestens sieben Engel gleichzeitig. „Damit es gutgeht!“, sagte Gott Vater. „Aber da reden wir in vierunddreißig Jahren wieder drüber. Jedenfalls fängt es mit Freude an, weil es mit einem Kinde anfängt. Und das verspreche ich euch: Zuletzt wird wieder Freude sein, und sie wird bleiben.“