21. Dezember
„Abendgebet“ von Luise Rinser
Nun ist es Abend, bleib du am Tor sitzen in der Nacht, überwache den Schlaf der Kinder, der weißen, schwarzen, gelben, das leicht zugängliche Herz der jungen Mädchen, schenk den Liebenden schöne Umarmungen und den Kranken selige Träume, den Sterbenden gib Einsicht in dein Geheimnis, den Mördern lass die Opfer entschlüpfen, den Dieben gib kleine Beute, doch nicht bei den Armen, den Huren sei gnädig, die Einsamen besuche du, meinen Söhnen gib den gesunden Schlaf junger Männer, die Selbstmörder fang auf in deinen Armen, den Freund lass mich besuchen gegen Morgen im Federkleid eines Sperlings an seinem Fenster,und lass mich ein klein wenig wachsen über Nacht, so wie Kinder unversehens wachsen im Schlaf oder während des Krankseins, und werde du deiner Welt nicht müde, gib uns ein Beispiel der Treue, damit wir den Mut behalten, dir treu zu sein, dir und unsern Gefährten und allen Menschen, bis zum nächsten Morgen, dann sehen wir weiter.