18. Dezember
Ab vor die Tür (Carolin Emcke)
Meine Großmutter war mir die beste Großmutter der Welt. Sie fuhr Auto wie ein Berserker, spielte leidenschaftlich Karten und rauchte filterlose Zigaretten. Wir durften jedes Tier mit nach Hause bringen, das im Wald oder auf den Feldern zu finden war. Sie ließ uns vorschlafen, um uns dann, unter dem Versprechen, dass wir den Eltern nichts verraten würden, Muhammad Ali boxen sehen zu lassen. Sie tröstete liebevoll bei Kummer und pflegte geduldig bei aufgeschlagenen Knien, Windpocken oder Erkältungen. Sie war so geländegängig wie großzügig.
Nur eines duldete meine geliebte Großmutter nicht: Übellaunigkeit. Da war sie streng. Maulte oder quengelte man stundenlang herum, griff einen meine Großmutter am Nacken, sanft, aber doch bestimmt, und sagte: „Ich glaube, du musst mal ein bisschen nach draußen und dort spielen. Wenn`s dir besser geht, kannst du wieder reinkommen.“ Und schwupp war man vor der Tür. Schlechte Laune galt meiner Großmutter schlicht als unhöflich. Es gehörte sich nicht, andere mit der eigenen Unzufriedenheit zu belasten oder gar dafür verantwortlich zu machen. Ich erinnere mich gut daran, wie ich mich dann nach draußen trollte, kurz etwas unschlüssig herumlungerte, aber schon bald so vergnügt die Gegend erkundete, dass ich Stunden später meist nicht mehr daran dachte, ursprünglich nicht gar so freiwillig draußen gelandet zu sein. Bis heute empfinde ich schlechte Laune als unerzogene Zumutung und bis heute denke ich gelegentlich, manchem täte es gut, einfach mal vor die Tür zu gehen und ein wenig zu spielen.
Meine Großmutter übrigens war ausgewandert und wieder eingewandert. Uns Enkeln hat sie nicht einen Ort als Zuhause vermacht, sondern eine Haltung. Ob ich ihr immer gerecht werde, steht zu bezweifeln. Aber manchmal schicke ich mich gleichsam selbst vor die Tür – und ich denke, das würde ihr gefallen.