12. Dezember
„Ankunft“ von Wilhelm Schmid
Vorweihnachtszeit, vor vier Jahren. Seit Langem will ich Weihnachten mal wieder im Elternhaus verbringen, einen Hauch des Kindheitszaubers atmen. Aber es klappt ja nie, so viel zu tun. Ich rufe meine Mutter an, um ihr das zu sagen und dass ich nach Neujahr bei ihr sein werde. Sie ist nicht überrascht, nicht enttäuscht, sagt nur, dass wir uns dann leider nicht mehr sehen können. Ich weiß sofort, was das bedeutet. Umgehend buche ich für meine Familie eine Wochenendreise, und kurze Zeit später sitzen wir im vertrauten, schlichten Wohnzimmer, die Kerzen am Adventskranz brennen, wir essen und trinken und plaudern, es ist so gemütlich wie immer. Die Kinder wissen, dass sie das wahrscheinlich zum letzten Mal genießen können. Meine Mutter singt ein Lied für sie: „Guten Abend, gut’ Nacht, mit Rosen bedacht…“ So hochbetagt, wie sie ist, so überströmend ist ihre Lebensfreude – und ihr Einverstandensein damit, dass dieses Leben eine Grenze hat. Der Abschied ist ganz leicht. Zurück in Berlin, greife ich zum Telefon und lasse es dreimal klingeln, das vereinbarte Zeichen, dass wir gut angekommen sind. Das schärfte sie mir immer ein, im unnachahmlichen Dialekt der Heimat in Bayerisch-Schwaben: „Duasch bloß en Dupfer!“ Tu nur einen Tupfer. Wenige Tage vor Weihnachten ruft mich mein jüngerer Brüder an. Auch er muss nicht viel sagen. Und so tragen wir sechs Geschwister unsere geliebte Mutter am Tag vor Heiligabend zu Grabe, das traurigste Weihnachten, das ich je erlebt habe. Im Stillen bitte ich meine Mutter, sie solle, wenn sie drüben ankomme, ein Zeichen geben: „Duasch bloß en Dupfer!“ Und tatsächlich – beim „Leichenschmaus“ fällt im Gasthaus plötzlich der Weihnachtsbaum um. Keine Verletzten, nur eine klare Ansage: „Ich bin angekommen.“ Danke, Mutter!