11. Dezember
„Freude“ von Hanna Buiting
Er ist mein Sitznachbar im ICE: Rafael aus Venezuela. Während der Fahrt kommen wir ins Gespräch. Wir unterhalten uns auf Englisch, erzählen einander, wohin wir unterwegs sind, was wir so machen im Leben, stellen fest, dass wir gleich alt sind. Es ist ein lockeres Gespräch. Ungezwungen. Eine kleine Zugbekanntschaft, wie man sie manchmal macht. Wenn wir aussteigen, wird wohl jeder von uns wieder seine eigenen Wege gehen. Jetzt aber teilen wir dieselbe Strecke. Der Zug verlässt gerade den Hauptbahnhof von Hannover, als unsere Unterhaltung abrupt abbricht: Rafael springt so plötzlich von seinem Sitz auf, dass ich zusammenzucke und auch andere Fahrgäste auf ihn aufmerksam werden. Rafael strahlt übers ganze Gesicht, wirkt ganz außer sich, deutet mit dem Finger nach draußen und ruft: „Snow! Look at this! Snow!“ – „Schnee, guck dir das an! Schnee!”. Mein Blick folgt seinem Finger. Er hat recht. Weiße Flocken fallen vom dezembergrauen Himmel. Wenige nur. Eher Flöckchen als Flocken. Sie bleiben nicht mal liegen. Und doch, es stimmt: Es schneit. Ich muss lächeln. „Das erste Mal in diesem Jahr“, sage ich auf Englisch. Rafael nickt langsam. Er kann den Blick kaum vom Fenster abwenden. Es sieht so aus, als würden Tränen in seinen Augen glitzern. „Das erste Mal in diesem Leben“, sagt er.