8. Dezember
„Die Versuchung“ von R. Sprung
Meine Frau hatte unseren letzten Damastbezug mit zwei Kopfkissen bei einer Fahrt aufs Land eingetauscht. Ein Pfund Mehl, ein Viertelliter Öl und eine Handvoll Zucker waren davon noch übrig. Sie hatte mir nichts davon gesagt. Ich wog damals ganze 104 Pfund und litt beständig an einem nagenden Hungergefühl.
Am Abend vor dem ersten Advent sagte meine Frau beim Schlafengehen: „Morgen backe ich einen Kuchen.“ Sie lachte dabei, und ich dachte, sie scherzte nur. Aber in der Nacht träumte ich vom Kuchen. Als ich am Morgen erwachte, war das Bett neben mir leer und – die ganze Wohnung roch nach frisch gebackenem Kuchen. Ich lief in die Küche hinüber. Da stand das Wunderwerk auf dem Tisch, braun und knusprig, und meine Frau stand daneben und lachte über das ganze Gesicht.
Zum Frühstück gab es Maisbrot mit Rübenmarmelade und schwarze Kaffeebrühe. Danach zogen wir die Mäntel an und gingen zum Gottesdienst. Vor der Kirchentür trafen wir mit den Müllers zusammen. Wir hatten die Müllers im vergangenem Jahr in der Bibelstunde kennengelernt und sie seither nur einige Male von Weitem gesehen. Eine flüchtige, oberflächliche Bekanntschaft. Sie hatten nie besonders gut ausgesehen, aber an jenem Morgen glichen sie blass und abgemagert, Schwindsüchtigen im letzten Stadium.
Wahrscheinlich ging meiner Frau der Anblick der beiden Elendsgestalten ebenso zu Herzen wie mir, denn sie sagte, kaum dass wir uns die Hände geschüttelt hatten: „Besuchen sie uns einmal, aber recht bald. Sie würden uns eine große Freude damit machen.“ Die Augen in Frau Müllers magerem Gesicht begannen zu strahlen, und Herr Müller lächelte.
Während der Predigt wurden meine Gedanken mit magischer Kraft zum Kuchen gezogen. Endlich war es dann so weit. Die Stube roch nach Kerzen und Tannengrün. Das gute Geschirr stand auf dem blütenweißen Damasttuch und der Tee kochend heiß unter der Haube. Meine Frau nahm das Messer, um den Kuchen anzuschneiden – da schrillte die Klingel.
Wir saßen sekundenlang wie erstarrt. „Die Müllers“, sagte sie erbleichend. Hätten wir doch heute Morgen …“ „Vielleicht gehen sie wieder weg“, gab ich zu bedenken, obwohl ich nicht daran glaubte. Beim dritten Klingeln schlich ich auf Strümpfen zur Tür. „Sie sind nicht zu Hause“, hörte ich Frau Müller sagen. Ihre Stimme klang so enttäuscht, daß es mir ins Herz schnitt. Ich schämte mich vor mir selbst. Aber ich war viel zu gierig, um auch nur die Möglichkeit zu erwägen, den Kuchen mit den beiden Ärmsten zu teilen.
Ich schlich ins Zimmer und sagte ratlos zu meiner Frau: „Sie gehen nicht weg. Was sollen wir denn jetzt tun?“ In diesem Augenblick drang von draußen Frau Müllers Stimme in freudigen Erregung: „Du, da drinnen hat sich was bewegt.“
Jetzt war Eile geboten. „Schnell, schieb den Kuchen unters Sofa!“ sagte meine Frau. Mit einem raschen Handgriff beförderte sie Messer und Kuchenteller in den Schrank. Dann ging sie hinaus, um zu öffnen. Ich heftete mich an ihre Fersen. Die Freude der Müllers war rührend.
„Entschuldigen sie bitte, dass wir sie warten ließen“, sagte meine Frau. „Wir hatten uns nach dem Mittagessen etwas hingelegt.“ Die beiden entschuldigten sich wortreich für die Störung.
Alles wäre gut gegangen, wenn sie nur ihren Spitz nicht mitgebracht hätten. Pfeilgeschwind schoss das kleine Ungeheuer durch meine Beine hindurch, über die Türschwelle Richtung Sofa. Ich bekam ihn eben noch am Halsband zu fassen. Er gebärdete sich wie toll. Er versuchte, an meinen Beinen vorbeizukommen. Er benahm sich wie besessen, quietschte, fauchte, jaulte und knurrte, während er mit aller Kraft versuchte, meine Beine beiseitezuschieben.
Das Müllersche Ehepaar, von dem Benehmen seines Hundes peinlich berührt, entschuldigte sich vielmals und beteuerte wie aus einem Munde, daß der Spitz sonst eigentlich immer echt brav wäre, während meine Stirn sich fühlbar mit kaltem Schweiß bedeckte.
„Ist ihnen nicht gut?“ fragte Herr Müller teilnehmend. „Das Kreuz“, erwiderte ich, „wir müssen anderes Wetter bekommen. Seit dem Krieg habe ich es mit dem Ischias.“
Und dann war plötzlich alles aus. Ich bekam einen Krampf in beiden Unterschenkeln und spürte den Schmerz bis ins Kreuz hinauf. Vor meinen Augen tanzten feurige Kreise. Ich war am Ende meiner Kraft. Ich war an dem Punkt angelangt, wo einem alles gleichgültig wird. Mit letzter Kraft bückte ich mich, zog den Kuchen unterm Sofa hervor und stellte ihn auf den Tisch.
„Wir haben einen Kuchen gebacken“, sagte ich mit matter Stimme, ohne die Augen zu heben, „und wir haben ihn vor euch versteckt, weil wir ihn allein essen wollten!“
Ich ließ den Kopf auf den Tisch fallen und heulte. Ich kann mich nicht erinnern, als erwachsener Mensch jemals geweint zu haben, obwohl der Krieg genügend Anlass geboten hätte. Aber dies hier war etwas anderes. Hier stand meine hartherzige Gier gegen Hunger, Hoffnung und gläubiges Vertrauen in den christlichen Bruder.
Als ich mich gefasst hatte und den Kopf hob, bemerkte ich, dass die anderen drei ebenfalls verweinte Augen hatten. Die schmächtige Frau Müller schluckte tapfer die Tränen hinunter und durchbrach als Erste den Bann des Schweigens: „Ich weiß, wie weh Hunger tut“, sagte sie schlicht, „ich hätte es wahrscheinlich genauso gemacht.“ Und plötzlich begannen wir zu lachen, ganz grundlos, mehr aus Verlegenheit, aber es wurde ein befreiendes, frohes Lachen.
Sie wollten aufbrechen, aber davon konnte nun keine Rede mehr sein. Der Kuchen wurde angeschnitten, und das Wunder geschah – ich verspürte bereits nach dem zweiten Stück ein lang entbehrtes Gefühl der Sättigung. Alle wurden satt. Sogar der Spitz bekam seinen Teil.