Herr Wohllieb wartet auf ein Zeichen (Susanne Niemeyer)
Als Herr Wohllieb am Dienstagmorgen erwachte, hatte sich ein großes Loch aufgetan. Unten rauschten die Lastwagen, gegenüber schüttelte eine Frau im dritten Stock ihren Teppich über den Köpfen der Fußgänger aus. Der Himmel war mittelgrau und die Leuchtreklame des Tabakladens blinkte unverdrossen. Es war Dezember. Alles war wie immer, nur dass plötzlich diese Frage vor ihm stand: Was mache ich mit dem Rest meines Lebens? Erst wollte er sich ablenken, aber die Frage kam immer wieder hoch.
Nach reiflicher Überlegung beschloss er, sich an Gott, den Allmächtigen, zu wenden. Auch wenn sie bisher noch nicht viel Kontakt miteinander hatten, nahm er an, dass er der richtige Ansprechpartner für derlei Dinge wäre. „Herr Gott“, begann er und strich über sein Haar und straffte den Rücken, denn dies war ein ernster Moment. Er räusperte sich noch einmal und sprach in Richtung Zimmerdecke: „Was soll ich tun mit meinem Leben? Bitte sei so gut und gib mir ein Zeichen! Danke.“ Er zögerte kurz und fügte noch hinzu: „Dein Bernd.“ Dann wartete er. Aber Gott schwieg.
„Merkwürdig“, murmelte Herr Wohllieb, denn er hatte mit einer raschen Reaktion gerechnet. Sein Fall lag ja nicht so kompliziert. „Ob er meine Nachricht erhalten hat? Vielleicht ist er überlastet …“ Er verwarf den Gedanken schnell. „Wie albern“, schalt er sich, „überlastet? Der Allmächtige!“ Nach eingehender Betrachtung entschied er, dass es nur einen einzigen Grund für das Schweigen Gottes geben konnte: Er dachte nach. Er, Gott, der Allmächtige, wollte für ihn, Bernd Wohllieb, eine perfekte, eine wahrhaft vollkommene Antwort finden. Der Gedanke ließ ihn erröten. Sein Herz pocht schneller. Sollte er, Bernd Wohllieb, denn so wichtig sein? Das war doch nicht möglich! Dann fuhr er ein zweites Mal durch das Haar und beschloss, eine Krawatte umzubinden. Dann machte er einen Spaziergang, bei dem er den Passanten freundlich zunickte, denn auf keinen Fall wollte er, der offenkundig ein so bedeutender Mensch war, für hochnäsig gehalten werden.
Auch die folgenden Tage blieben Tage des Schweigens. Gott dachte nach. Und Herr Wohllieb wollte ihn nicht stören. Sorgsam ging er mit sich um, hielt sich höflich die Tür auf und achtete darauf, nicht mit sich selbst zu schimpfen, wie er es häufig tat, wenn er „Ich Dussel“ murmelte oder „Jetzt reiß‘ dich aber zusammen!“ Wenn Gott, der Herr, ihn für so wichtig hielt, dass er bereits drei volle Tage über ihn nachdachte, dann sollte er es ihm nachtun und sich nicht für weniger wichtig halten.
Je länger Gottes Schweigen dauerte, desto mehr Ehrfurcht bewirkte es in Herrn Wohllieb. Er bemerkte kaum, wie die Jahre vergingen. Seine Haare wurden weiß und er verlor drei Zähne, die Lastwagen auf der Straße wurden größer, und eines Morgens war die alte Leuchtreklame gegen eine moderne Schrift ausgetauscht. Manchmal fiel ihm seine Frage dieses fernen Dienstag morgens wieder ein. Dann sagte sich Herr Wohllieb: Gott denkt über mich nach. Und das beruhigte ihn so ungemein, und es erfüllte ihn mit einer solchen Wärme, weil er wusste, zwischen Gott, dem Herrn, und ihm, dem alten Herrn Wohllieb, gab es so etwas wie ein stilles Einvernehmen. Und das war möglicherweise Antwort genug.